Erlösung
Proben auf Godot Teil I
Warten wir nicht alle darauf, dass jemand kommt, der uns die Hand auf die Schulter legt und sagt: Alles ist gut, das hast du gut und richtig gemacht, dein Dasein macht Sinn, du hast Recht?
Wir alle streben nach Erlösung in unserem Tun, ob in Politik, Sport, Beruf oder Familie, ganz gleich, ob wir sie bei Menschen suchen, oder bei einer höheren Instanz.
Da wir uns alle unentwegt auf der Suche nach dem Sinn unsres Seins befinden, drängt es uns stetig nach äußerer Beglaubigung unseres Schaffens. Weil sich aber oft genug der „Erlöser“ nicht blicken lässt, wenn man ihn am meisten braucht, bleibt uns nur die eigene Deutungshoheit bei der Beurteilung unserer Sinnhaftigkeit – und die ist meistens wenig streitbar. Ganz gleich, ob es um Religion, Geld, Politik oder dem generellen menschlichen Miteinander geht:
Alle haben das Recht meine Meinung zu haben.
„Erlösung – Proben auf Godot Teil I“ wird ein Experiment.
Inspiriert von Samuel Becketts Meisterwerk Warten auf Godot, ist Erlösung – Proben auf Godot TeilI ein theatrales Projekt, welches mit dem 24.11.15 seinen Anfang nimmt und über die nächsten Jahre weitergeführt wird. Wir wollen mit diesem ersten Teil den Versuch unternehmen, einen offenen, mutigen, kontroversen und notwendigen Diskurs zu führen. Im Theater.
Pressestimmen
Rüsselsheimer Theatergruppe „sechzig90“ bringt eigene Version des Beckett-Klassikers „Warten auf Godot“ auf die Bühne
Von Daniela Ammar
RÜSSELSHEIM – Im Jahre 1953 wurde das Theaterstück „Warten auf Godot“ erstmals im Pariser „Théatre de Babylone“ aufgeführt und verhalf dem irischen Schriftsteller Samuel Beckett zum Durchbruch als Autor. Am Mittwoch brachte das Ensemble des Rüsselsheimer Theatervereins „sechzig90“ mit „Erlösung – Proben auf Godot, Teil 1“ eine eigene Version des Stückes auf die Hinterbühne des Stadttheaters, wobei das theatrale Projekt bereits im Vorfeld als „Experiment“ bezeichnet wurde.
Ein mit Kaffeebechern, Gläsern und Thermoskanne gedeckter Tisch, Kekse, Baumkuchen, zwei Stühle und eine bei den Zuschauern untergebrachte Souffleuse erwarten das aus leider nur zehn Zuschauern bestehende Publikum, das vom Auftritt des im türkisfarbenen Bademantel und mit Bergschuhen ausgestatteten Schauspielers (Karl Walter Sprungala) keineswegs überrascht war. Schließlich handelte es sich um eine „Probe“ und nicht um eine fertige Inszenierung des Stücks, bei dem die beiden Landstreicher „Estragon“ und „Wladimir“ an einer Landstraße ihre Zeit damit verbringen, auf „Godot“ zu warten, der nie auftauchen wird.
Sollte hier die erste Parallele lauern? Vielleicht, denn gewartet wurde zunächst auf Holger Kraft, natürlich absichtlich, der nach einem kurzen, inszenierten „Aufreger“ hinter der Bühne dieselbe betritt, die Souffleuse begrüßt und am Tisch Platz nimmt. Das Experiment beginnt. Es wird geprobt. Einzelne Szenen rezitiert das Duo, um das Spiel, sobald es an Tiefe zu gewinnen scheint, zu unterbrechen und in die Groteske abzutauchen. Mittel dazu sind nicht nur inszenierte „Fressorgien“ der beiden Schauspieler, bei denen im Verlauf des Abends nicht nur Kekse und Pizza, sondern auch Austern und Schampus den Weg in die Kehlen der beiden Bademantelträger finden, wobei der Begriff des absurden Theaters, zu dem auch Becketts „doppelter Einakter“ zählt, eine völlig neue Bedeutung bekommt.
Das lange sinnlose Warten, aus dem sich Becketts „Estragon“ und „Wladimir“ bis zum Ende nicht befreien können und das mit Diskussionen, Streit und sinnlosen Spielchen gefüllt wird, zeigt sich auch bei der vorgespielten Probe. Wenn auch anders, denn während das Duo seine innere Leere mit Speisen und Schampus füllt und dabei diskutiert, ob Becketts Szenen eher „arschlos unterspielt“ oder völlig überzogen dargestellt werden sollten, nimmt das absurde Theater à la Beckett an Fahrt auf, um beim Auftritt des Pizzaboten (This Maag) zu einem vorläufigen Höhepunkt zu kommen. Er ist es, der die Rolle des Dieners „Lucky“ übernimmt und anfängt zu monologisieren. „Ich denke“, steht dabei als Phrase im Mittelpunkt.
Heruntergerattert werden Begriffe und Satzfetzen, wie „Fasten“, „Was kommt nachher“, „Jungfrau“, „Einzelteil“, „München“, „72“, „14 Jahre Krieg gegen Terror“, „Uns geht’s doch gut“, „Niemand zeigt uns, was los ist“ und „Flüchtlinge“, um abschließend mit der schreiend vorgebrachten Bitte „Es muss doch ein bisschen mehr Empathie geben!“ den geistigen Erguss zu beenden.
Cut. Es folgen Teile einer Pressekonferenz. Man befindet sich in der Ära „nach Paris“. Begriffe wie „möglicherweise“ und „vielleicht“ dominieren und es wird klar, dass auch hier – wie bei Becketts „Godot“ – Handlungen, Wünsche und Hoffnungen ins Leere laufen und am Ende, zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt, das Absurde siegt und die Erlösung in weiter Ferne ist.
http://www.main-spitze.de/lokales/kultur/lokale-kultur/ruesselsheimer-theatergruppe-sechzig90-bringt-eigene-version-des-beckett-klassikers-warten-auf-godot-auf-die-buehne_16415634.htm
Godot kommt nicht: Das war schon 1953 bei der Uraufführung des Klassikers so. Und das ist nicht anders bei der Premiere des Theaters Sechzig90, das „Erlösung – Proben auf Godot“ mit aktuellen Zügen versieht.
Rüsselsheim.
Estragon und Wladimir haben Platz genommen: 62 Jahre nach Samuel Becketts Uraufführung „Warten auf Godot“ sind die Landstreicher keinen Deut weitergekommen. Indes geben sie sich mit Anklang an eine apokalyptische Fressorgie – man denke an Marco Ferreris Film „Das große Fressen“ – der bitteren Lust letzter Genüsse hin.
Das Theater Sechzig90 lässt die Protagonisten Austern schlürfen und Champagner trinken, bevor Pizza vom Pappteller das Dessert abgibt. Nein, es macht keine Freude zuzusehen, denn das trostlose Konsumieren lädt „Warten auf Godot“ mit keinem Quäntchen Glück auf. Überhaupt Glück: Der unerhörte Anspruch, den eine subjektivistische Gesellschaft pflegt, ist längst von der Bühne gefegt, bevor Karl Walter Sprungala (Estragon) und Holger Kraft (Wladimir) in lotterigen Bademänteln hereinkommen.
Zur Premiere waren die Publikumsreihen der Hinterbühne im Stadttheater spärlich besetzt, was freilich die experimentierfreudigen Theatermacher nicht anficht. „Warten auf Godot“ war mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor eine Provokation, und sie ist es noch heute:
Es geschieht nichts. Oder fast nichts. „Warten auf Godot“ ist Synonym für Stillstand in sinnentleerter Welt. Tragikomische Hilflosigkeit zeitigt absurde Dialoge. „Erlösung – Proben auf Godot, Teil I“ nennt Sechzig90 seine Auseinandersetzung mit der Textvorlage, beruft sich im krisengeschüttelten Heute auf den Dramatiker, der ein Sinnbild der verunsicherten Moderne schuf.
„Sie laufen, aber sie legen keinen Weg zurück“
Beckett formulierte: „Sie laufen, aber sie legen keinen Weg zurück.“ Beklemmend lastet die Aktualität des Stoffes auf den Zuschauern. Die Darsteller kreisen dialogisch um vergebliche Erlösungsvisionen („Hast du die Bibel gelesen?“) und um verpassten Mut, der nichts anderes meint als den Mut zum Todessprung: „Um 1900 hätten wir Hand in Hand vom Eiffelturm springen sollen. Jetzt können wir ihn nicht mal mehr betreten.“ Geschickt webt das Stück aktuelles Zeitgeschehen ein, verweist auf Paris im Ausnahmezustand nach den Terrorakten.
2015 ist die Wirklichkeit eingebrochen ins Nichts. Plattitüden – „Was lange währt, wird endlich gut“ – erweisen sich als Schockstarre im beängstigenden Dasein ohne Godot. Kein Gott, kein „Göttchen“ bekleidet die Leere.
„Komm wir gehen“, sagt Estragon. Wladimir: „Wir können nicht.“ Estragon: „Warum nicht?“ Wladimir: „Wir warten auf Godot.“ Bei den Worten könnte einem schaudern, wäre da nicht die Blödelei, mit der Kraft und Kollege Sprungala aus dem Spiel heraustreten, einander kabbelnd kritisieren und zentrale Stellen des Stücks gebetsmühlenartig wiederholen. So lange, bis sie den Sinn verlieren: „I have a Dream.“ Ei häw ä driem. Worte zerrinnen zum Lallen in Leere.
„Sollen wir uns aufhängen?“ Sie tun es nicht. „Man bleibt, wie man ist. Es ändert sich nichts“, sagt Kraft alias Wladimir in starrer Pose. Stille. Ein Pizzajunge tritt auf. This Maag komplettiert das Bühnentrio, hält eine grandiose, irrwitzige Stotterrede um die Frage nach Sinn, während die anderen ungerührt Pizza kauen. „Warten. Worauf? Ich denke. Selbst. Hallo? Hallo Bordeaux? Halal? Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich stehen geblieben. Wir sprechen zu viel.“
Es folgt die makabre Karikatur der Pressekonferenz des Innenministers nach der kürzlich erfolgten Absage des Länderspiels Deutschland/Niederlande aufgrund von Terrorangst. Bananen geben die Mikros ab, die Worte sind dünn wie rissiges Papier und stehen der Absurdität von „Warten auf Godot“ in nichts nach: „Die Lage ist ernst. Ich möchte das Ausmaß der Gefährdung nicht kommentieren.“
Der Beifall des Publikums für Sechzig90 ist am Ende groß.